Arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit

Im Falle einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit gelangen die Sperrfristen nach Art. 336c OR nicht zur Anwendung. Die Arbeitgeberin kann daher das Arbeitsverhältnis auch während der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit kündigen.

Das Bundesgericht hatte im Entscheid BGer 1C_595/2023 vom 26. März 2024 zu beurteilen, ob der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Zustellung der Kündigung arbeitsunfähig war, was nach Art. 336c OR die Nichtigkeit der Kündigung zur Folge gehabt hätte.

Sperrfristen nach Gesetz

Art. 336c OR regelt den zeitlichen Kündigungsschutz, die sogenannten Sperrfristen. Nach Art. 336c Abs. 1 OR sind Arbeitnehmende während bestimmten Zeitperioden vor einer Kündigung durch die Arbeitgeberin geschützt. Arbeitnehmende, die beispielsweise ohne eigenes Verschulden durch Krankheit oder Unfall ganz oder teilweise an der Arbeitsleistung verhindert (arbeitsunfähig) sind, sind im 1. Dienstjahr während 30 Tagen, ab dem 2. bis und mit 5. Dienstjahr während 90 Tagen und ab dem 6. Dienstjahr während 180 Tagen vor einer Kündigung geschützt (Art. 336c Abs. 1 lit. b OR).

Diese Bestimmung will Arbeitnehmende, die in aller Regel bei der Stellensuche keine Chance haben und von einer neuen Arbeitgeberin in Kenntnis der Arbeitsverhinderung nicht angestellt würden, vor dem Verlust der Arbeit schützen.

Erwägungen des Bundesgerichts

Im vom Bundesgericht zu beurteilenden Fall lag eine sogenannte arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit vor. Eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit bedeutet, dass betroffene Arbeitnehmende nur hinsichtlich ihrer bisherigen Stelle arbeitsunfähig sind. Für alle anderen Stellen sind sie arbeitsfähig. Typisch für diese Fälle ist, dass Arbeitnehmende in ihrer privaten Lebensgestaltung, wie Freizeit, Hobbys, Mobilität und dergleichen, kaum eingeschränkt sind. Derartige Konstellationen treten in der Praxis regelmässig im Umfeld von psychischen Belastungssituation am Arbeitsplatz, zum Beispiel in einem Konfliktfall oder bei Vorliegen von Mobbing, auf.

Im Gegensatz dazu sind Arbeitnehmende bei Vorliegen einer allgemeinen Arbeitsunfähigkeit, welche sich nicht nur auf die bisherige Stelle beschränkt, uneingeschränkt arbeitsunfähig. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Arbeitnehmende hospitalisiert werden müssen oder ein Burnout erleiden, das zu einer Depression führt.

Fazit des Bundesgerichts: Kein Sperrfristenschutz bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit

In seinem Entscheid vom 26. März 2024 bestätigt das Bundesgericht erstmals, dass bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit die Sperrfristen aus Art. 336c OR nicht zur Anwendung gelangen. Begründet wird die Auffassung damit, dass Arbeitnehmende uneingeschränkt für andere Arbeitgeber tätig sein können, weshalb nicht davon auszugehen ist, dass die arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit die Chancen der Arbeitnehmenden, eine neue Stelle zu finden, schmälert. Arbeitnehmende sind ohne jede Einschränkung fähig, für einen neuen Arbeitgeber zu arbeiten.

Von zentraler Bedeutung in der Praxis ist daher die Qualifikation der Arbeitsunfähigkeit als allgemein oder arbeitsplatzbezogen. Nach der vom Bundesgericht vertretenen Ansicht haben daher Ärzte auf den Arbeitsunfähigkeitszeugnissen festzuhalten, ob die Arbeitsunfähigkeit arbeitsplatzbezogen oder allgemein ist. Zur Beurteilung der rechtlichen Situation ist das zwingend erforderlich, genauso wie der Grad der Arbeitsunfähigkeit und die Verursachung der Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall.

Zu beachten ist allerdings, dass die Bestimmung von Art. 336c Abs. 1 lit. b OR nur dann nicht anwendbar ist, wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung derart unbedeutend ist, dass Arbeitnehmende eine neue Arbeit antreten können.

Sperrfristen und Lohnfortzahlung

In der Praxis stellt sich zudem regelmässig die Frage, ob Arbeitnehmende bei Vorliegen einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Lohnfortzahlung haben. Diesbezüglich hat sich das Bundesgericht im vorliegenden Entscheid nicht geäussert. Eine allfällige Verlängerung der Kündigungsfrist infolge einer Sperrfrist ist mit der Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeberin nicht koordiniert und muss von dieser abgegrenzt werden. Die Lohnfortzahlung wird in Art. 324a OR geregelt.

 

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